Vermächtnis
Kein Wesen kann zu nichts zerfallen,
Das Ew’ge regt sich fort in allen,
Am Sein erhalte dich beglückt!
Das Sein ist ewig, denn Gesetze
Bewahren die lebend’gen Schätze,
Aus welchen sich das All geschmückt. . . .
J.W. von Goethe
Gedichtinterpretation von Ursula Klane, Juni 2021
Wagen wir eine Interpretation des Beginns dieses Gedichts von v. Goethe. Das Gedicht beginnt mit einem Paukenschlag, würde man es musikalisch ausdrücken: Kein Wesen kann zu nichts zerfallen. Betrachten wir die ersten drei Zeilen:
Kein Wesen kann zu nichts zerfallen,
Das Ew’ge regt sich fort in allen,
Am Sein erhalte dich beglückt!
Diese drei Zeilen drücken eine enorm große, eine hohe Dynamik des Lebens aus. Bzw. scheinen sich große Pole gegenüberzustehen: Der sterbliche Teil am Menschen, an jeder Kreatur, und demgegenüber das Ewige, das Unvergängliche. Und in der dritten Zeile ein Aufruf:
Am Sein erhalte dich beglückt!
Diese Zeile bedarf einer genaueren Betrachtung. Was ist dieses Sein, und weiterhin die Frage, wie erhält man sich daran beglückt? Hier ist der Erwachsene in all seinen Bereichen, d.h. auch in all seinen Möglichkeiten angesprochen, mit Körper-Seele-Geist oder, wie es z.B. die Anthroposophie ausdrückt, mit dem Körper-Ätherleib-Astralleib-Ich. Dies sind nur unterschiedliche Aufgliederungen, man könnte noch weitere finden, wie der Mensch z.B. in der indischen Philosophie wieder anders umfassend benannt wird. Wir sehen, dies ist „nur“ eine Kultur- und auch Zeitfrage. Hier wird der Mensch im künstlerischen Sinn angesprochen und aufgerufen, dass er verschiedenste Erscheinungsweisen des Lebens in der Tiefe erkennt. Wer in der heutigen Zeit lebt, ist im Stillen seiner Seele aufgefordert, Erkenntnisse zu den Mitmenschen, zu den Erscheinungsweisen der Natur, zu politischen, wirtschaftlichen Geschehnissen, zu Wesentlichem des Weltgeschehens zu erringen.
Wie der Mensch diese Auseinandersetzung angehen kann, beschreibt die Geisteswissenschaft. In allen Jahrhunderten lebten sog. Geisteswissenschaftler, Geistforscher, oder auch benannt als Geheimlehrer, Eingeweihte, Yogis – Persönlichkeiten also, die über die inneren Geschehnisse von äußeren Erscheinungsweisen, über tiefliegende Gesetzmäßigkeiten Kenntnis errungen hatten. Mit den inneren Ebenen sind die oben erwähnte seelische und geistige Ebene benannt. Geisteswissenschaftler kann man auf allen Tätigkeitsfeldern finden, nicht nur in der Philosophie; z.B. in der Mathematik, in der Musik, Malerei, Medizin. Aus der Antike ist der griechische Philosoph Platon ein bekanntes Beispiel, der mit weiteren Personen einen regen Austausch pflegte.
Geisteswissenschaft wirkt auf einen Teil im Menschen beunruhigend. Dieses Phänomen kann sehr häufig beobachtet werden. Sich über diesen Teil, der von der Tendenz her beharren will, der an einem Status-Quo festhalten will, Gedanken zu machen, ist schon ein Teil der Auseinandersetzung.
Kehren wir zurück zu dem Gedicht. In der zweiten Hälfte dieses ersten Gedichtteils wird das Sein näher charakterisiert:
Das Sein ist ewig, denn Gesetze
Bewahren die lebend’gen Schätze,
Aus welchen sich das All geschmückt.
Wiederum ist eine hohe Dynamik erkennbar, es ist die Rede von lebendigen Schätzen. Und es wird eine Ewigkeit benannt, etwas Seiendes.
Die Dynamik und das Sein, das Ewige, erscheinen vielleicht wie ein Paradoxon. Wie kann etwas ewig sein, etwas als Gesetz gelten, und gleichzeitig lebendig sein, in Bewegung? Wir sehen, der Mensch ist in all seinem Vermögen gefragt bzw. aufgefordert, nicht nur mit dem Intellekt, sondern viel mehr mit einem umfassenden, wiederholten Sich-Eindenken, Sich-Hineinvertiefen in Zusammenhänge und in diesem weit gefassten Vermögen selbstständig und eigenverantwortlich voranzuschreiten. Hierzu möchte dieser Text anregen.
Vermächtnis
Kein Wesen kann zu nichts zerfallen,
Das Ew’ge regt sich fort in allen,
Am Sein erhalte dich beglückt!
Das Sein ist ewig, denn Gesetze
Bewahren die lebend’genSchätze,
Aus welchen sich das All geschmückt.
Das Wahre war schon längst gefunden,
Hat edle Geisterschaft verbunden,
Das alte Wahre, fass es an!
Verdank es, Erdensohn, dem Weisen,
Der ihr, die Sonne zu umkreisen,
Und dem Geschwister wies die Bahn.
Sofort nun wende dich nach innen,
Das Zentrum findest du da drinnen,
Woran kein Edler zweifeln mag.
Wirst keine Regel da vermissen,
Denn das selbständige Gewissen
Ist Sonne deinem Sittentag.
Den Sinnen hast du dann zu trauen,
Kein Falsches lassen sie dich schauen,
Wenn dein Verstand dich wach erhält.
Mit frischem Blick bemerke freudig,
Und wandle sicher wie geschmeidig
Durch Auen reich begabter Welt.
Genieße mäßig Füll und Segen,
Vernunft sei überall zugegen,
Wo Leben sich des Lebens freut.
Dann ist Vergangenheit beständig,
Das Künftige voraus lebendig,
Der Augenblick ist Ewigkeit.
Und war es endlich dir gelungen,
Und bist du vom Gefühl durchdrungen:
Was fruchtbar ist allein ist wahr;
Du prüfst das allgemeine Walten,
Es wird nach seiner Weise schalten,
Geselle dich zur kleinsten Schar.
Und wie von alters her, im Stillen,
Ein Liebewerk nach eig’nem Willen
Der Philosoph, der Dichter schuf,
So wirst du schönste Gunst erzielen:
Denn edlen Seelen vorzufühlen
Ist wünschenswertester Beruf.
J.W. von Goethe